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Collective Practices: A Living Experience of Feeling Listened

Während der Lungomare Residency 2021 hat die Künstlerin Binta Diaw ein Projekt konzipiert, das auf einer Reihe von partizipativen Aktionen basiert. Die Aktionen, die als kollektive Praktiken verstanden werden, beziehen Menschen mit ein, um neue kritische Formen des “Erlebens und Bezeugens” des lokalen Territoriums zu entwickeln.

Die Hauptinspiration für das Projekt ist der Text “Südtirol ABC Sudtirolo” von Alexander Langer. Das Breviarium basiert auf einer Liste von Schlüsselwörtern, die der Autor als “eine Sprache” ansah, um die Vergangenheit und die Realität Südtirols zu seiner Zeit zu erzählen und zu beschreiben. Trotz der Unvollständigkeit des Werks haben die offene Form und der zeitgenössische Charakter einiger Begriffe die Künstlerin dazu veranlasst, sie auf eine andere Art und Weise neu zu formulieren, um über das heutige Südtirol nachzudenken und es zu hinterfragen. Die verschiedenen kollektiven Praktiken, die bewusst durch Audio-, Video- und Fotoaufnahmen dokumentiert wurden, werden das Material bilden, anhand dessen die Künstlerin eine neues, chorisches und zeitgenössisches „ABC Südtirol“ schreiben wird.

 

Collective Practice I

– The Land of Our Birth is a Women –

“Wenn wir neue Formen des Feminismus schaffen wollen, brauchen wir die Solidarität zwischen den Generationen, aber vor allem müssen wir die Qualität der Beziehungen zwischen denen, die waren, denen, die sind und denen, die sein werden, aufrechterhalten.”

Die erste kollektive Praxis mit dem Titel “The Land of Our Birth Is a Woman” präsentierte sich als ein Raum der Fürsorge, der Weitergabe und des Zuhörens für Frauen mit Migrationshintergrund, die in verschiedenen Südtiroler Städten leben. Das Treffen beinhaltete den Entwurf und die Realisierung eines kollektiven Patchworks, das von mehreren Händen genäht wurde.

Warum ein Patchwork?

Textilien und Nähen sind lebenswichtige und kulturelle Elemente, die alle Gemeinschaften auf der ganzen Welt miteinander verbinden. Nähen ist eine uralte Praxis der Weitergabe, an der häufig Frauen beteiligt sind. Die Symbolik, die hinter dem Akt des Zusammenfügens verschiedener Stoffstücke steht, ist die Grundlage der ersten kollektiven Praxis, d. h. der Zusammenführung von Frauen aus verschiedenen Gemeinschaften.

Die Absicht dieses Moments ist es, das Bewusstsein zu schärfen und die Figur des Körpers von marginalisierten Frauen zu diskutieren, indem die zahlreichen stereotypen Darstellungen, die bestimmte Denkweisen unterstützen, dekonstruiert werden. Zu den verschiedenen Zielen dieser Praxis gehören die Sensibilisierung und die Infragestellung der Wahrnehmung und der zahlreichen stereotypen, patriarchalischen und eurozentrischen Darstellungen von Frauenkörpern.

Die Ziele der kollektiven Praxis I:

– Lokale Inklusivität als eine Vision, die über geschlechtliche, geografische und identitätsbezogene Grenzen hinausgeht
– Sinn für Gemeinschaft, Integrität und Empathie
– Schaffung sicherer, sensibler Räume auf der Grundlage von Mut, Zusammenarbeit und Horizontalität
– Die Universalität der Kunst nutzen

Schlüsselwörter aus dem ABC Südtirol:

– Ängste
– Partei ergreifen
– Fremdkörper
– Vermischung

Collective Practice II

– We are Potluck – 

Das Treffen beinhaltete ein gemeinsames Abendessen, das von mehreren Händen und mit verschiedenen Zutaten zubereitet wurde.

Warum die Entscheidung, den ganzen Abend auf Essen zu gründen? Zutaten und Kochpraktiken sind lebenswichtige und kulturelle Elemente, die alle Gemeinschaften auf der ganzen Welt vereinen. Das Potluck ist ein gemeinschaftliches Essen, an dem alle Gäste aktiv teilnehmen. Ursprünglich waren Potlucks Mahlzeiten, die in religiösen und nicht-religiösen Gemeinschaften eingeführt wurden, um die Bedeutung des Teilens zu betonen.

Die Ziele der kollektiven Praxis II:

– Lokale Inklusivität als Vision, die durch das Kochen die Grenzen von Geschlecht, Geografie und Identität überwindet
– Sinn für Gemeinschaft
– Schaffung fließender, sensibler Räume auf der Grundlage von Mut, Zusammenarbeit und Horizontalität
– Dialog und Konfrontation durch eigene Erfahrungen
– Nutzung der Universalität von Kunst und Essen

Schlüsselbegriffe aus dem ABC Südtirol:

– Assimilation
– Ethnizität
– Vermischung
– (Recht auf) Heimat
– Natur

Collective Practice III

– Living Young, Wild and Free –

Die Collective Practice III mit dem Titel Living Young, Wild and Free eröffnete einen Raum für den Austausch über die Lebenswelten von Jugendlichen zweiter Generation in Südtirol. Im Jugendzentrum TILT in Meran wurden einen Abend lang Stichwörter aus dem „Südtirol ABC Sudtirolo“ im Zusammenhang mit der eigenen Biografie reflektiert. Anschließend wurden die Gedanken gemeinsam aufgeschrieben und vorgelesen.

Fragebogen

Alle Teilnehmer*innen der kollektiven Praxen wurden eingeladen vorab einen Fragebogen auszufüllen, den die Künstlerin Binta Diaw anhand von Stichwörtern aus dem „Südtriol ABC Sudtirolo“ von Alexander Langer formuliert hatte. In der Ausstellung können die Besucher*innnen selbst einen dieser Fragebögen bearbeiten. Die Gedanken und Anregungen werden Teil der für 2022 geplanten Publikation zum Projekt „Collective Practices: A Living Experience of Feeling Listened“.

Ausstellung

Collective Practices: A Living Experience of Feeling Listened (Kollektive Praktiken: Eine gelebte Erfahrung gehört zu werden)

Datum: 11. – 26.11.2021
Eröffnung: 11.11.2021 um 19 Uhr mit der Künstlerin Binta Diaw und den Kurator*innen
Frühstück mit der Künstlerin: 13.11.2021 von 10 bis 13 Uhr
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr und auf Anfrage an: info@lungomare.org

 

Courtesy Lungomare 2021
Courtesy Lungomare 2021

 

Fremdkörper, Heimat(recht), Farbe bekennen, Ethnisch, Gemischte, Vorurteile – viele der Begriffe des Fragment gebliebenen “Südtirol ABC Sudtirolo” des Politikers und Aktivisten Alexander Langer aus den späten 1980er Jahren, sind auch heute noch für Debatten über Kultur, Identität und Zusammenleben prägend.

Binta Diaw hat ausgewählte Stichwörter des zeithistorischen Dokuments “Südtirol ABC Sudtirolo” bearbeitet, um sie vor dem Hintergrund aktueller sozialpolitischer Fragestellungen erneut zur Diskussion zu stellen. In drei kollektiven Praktiken entstanden neue Lesarten und Querverbindungen, die es ermöglichen Gemeinschaft in unserer postmigrantischen Gesellschaft zu reflektieren und sie neu zu denken. Die Künstlerin hat dafür bewusst Zwischenräume eröffnet, in denen – abseits festgeschriebener Rollen, Identitäten und Dynamiken – ein Austausch stattfinden kann.

Die Ausstellung “Collective Practices: A Living Experience of Feeling Listened” übersetzt die Prozesse des Erzählens und Zuhörens, sowie Nähens, Kochens und Schreibens in eine multimediale künstlerische Landschaft, die den Versuch unternimmt, neue Bezugssysteme aufzubauen und gemeinschaftlich zu definieren. Dabei werden kulturelle Selbstbeschreibungen und gesellschaftliche Teilhabe ebenso wie die demokratische Verfasstheit des Territoriums verhandelt.

Wie die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing konstatiert, sind wir heute nicht mehr in der Lage, uns auf eine stabile Gemeinschaftsstruktur zu beziehen und finden uns in veränderlichen Gefügen wieder, die uns und unsere Gegenüber umformen. In diesem Zustand der Prekarität beginnen uns unvorhersehbare Begegnungen zu verändern. In diesem Sinne sind die kollektiven Praktiken Vorschläge für eine „Bewegung des Zusammenlebens“ – temporäre Räume, die sich einer Welt entgegensetzen, die singuläre und machtbezogene Dynamiken reproduziert. Stattdessen schaffen sie Platz für Differenz und damit Möglichkeiten, den Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden zu bearbeitet und überwinden.

Alexander Langers Stichwörter – von Angst, über Gewalt und Opposition, bis hin zu Überleben – reichen tief in unsere Gegenwart und erfahren in den kollektiven Praktiken eine Aktualisierung, die sie für eine Gesellschaft jenseits nationaler Zugehörigkeiten, kultureller Zuschreibungen und ethnischer Festlegungen fruchtbar machen. Der Journalist Simone Zoppellaro beschreibt sehr gut, was die Texte und Gedanken Alexander Langers heute, im Jahr 2021 auslösen: sie drängen uns dazu, „unsere beschränkte Sicht auf die Welt, unser Zögern und unsere unfreiwillige Komplizenschaft zu hinterfragen, unsere Grenzen zu überwinden“ und fordern uns letztendlich zum Handeln auf. Binta Diaw knüpft mit ihrer Arbeit im Rahmen der Künstlerresidenz von Lungomare an diese Aufforderungen an und imaginiert mögliche Zukünfte unseres Zusammenlebens.