Osservatorio urbano # 2
Traum Stadt Wir – Möglichkeiten urbaner Wahrnehmung
Das Buch basiert auf der Erfahrung des Osservatorio Urbano/Lungomare – ein temporäres Netzwerk für urbane Strategien – das 2005 von Lungomare initiiert wurde. Im Buch reflektieren die Kuratoren der Publikation zusammen mit zehn geladenen Autoren, die im Bereich Architektur, Stadtplanung, Fotografie, Kunst und Literatur tätig sind, über das mehrstimmige „Lesen der Stadt“ mit ihren Bewohnern, über Möglichkeiten des Sehens, über Modalitäten des „flanierenden Betrachtens“ und über die Wahrnehmung der zeitgenössischen Stadt durch die Sinne. Die Publikation erforscht die zeitgenossische Stadt auf pluralen Ebenen und beschreibt „Übungen“ zu Möglichkeiten urbaner Wahrnehmung.
Anlässlich der Buchpräsentation werden die Inhalte des Buches mit Experten diskutiert. Eine besondere Aufmerksamkeit wird in der Diskussion dem Titel des Buches geschenkt: „Traum Stadt Wir – Möglichkeiten urbaner Wahrnehmung“, der die Intention der Publikation am Besten beschreibt: das Bedürfnis Stadt umfassend und disziplinübergreifenden Projekten zu beschreiben, dabei von der Eröffnung von Frei- und neuen Denkräumen träumen, und Visionen für und mit jenen zu entwickeln, die sich mit der Stadt in Beziehung setzen, und dort Raum für sich gewinnen möchten.
Teilnehmer der Diskussion:
Emanuela De Cecco (Kunstkritikerin und Professorin an der Fakultät für Design und Künste der Freien Universität Bozen)
Carl Fingerhuth (Stadtplaner und Architekt aus Zürich)
Michael Obrist (Architekt, feld72, Wien)
Matteo Scagnol (Architekt, Modus Architects, Brixen)
Moderation: Angelika Burtscher, Manuela Demattio, Roberto Gigliotti
TRAUM STADT WIR – Möglichkeiten urbaner Wahrnehmung. Erschienen im Studienverlag (Innsbruck/Wien/Bozen), 204 S., zahlreiche Farbfotos, ISBN 978-3-7065-4408-5, kuratiert von Angelika Burtscher, Manuela Demattio und Roberto Gigliotti
Buchbeiträge von: Alessandro Banda, Francesco Careri, Carl Fingerhuth, Francesco Jodice, Arno Ritter, Joseph Rykwert, Ferdinand Schmatz, Boris Sieverts, Benjamin Tomasi, Heimo Zobernig
Lungomare
In Zusammenarbeit mit:
Studienverlag (Innsbruck, Wien, Bozen)
Alessandro Banda
Ein oder zwei Jahre bevor Pier Paolo Pasolini starb (und wir wissen alle, auf welche Art und Weise), nahm er an einer Fernsehsendung teil. Man weiß, wie sehr Pasolini das Fernsehen verabscheute; doch so schier widersprüchlich, wie er war und davon durch und durch gekennzeichnet war, nahm er dennoch daran teil. Die Fernsehsendung hieß Io e … Worum ging es? Eine namhafte Person aus der Literatur, der Politik oder vom Theater war aufgefordert, ihre Vorlieben im Bereich der Kunst anzugeben und – genau genommen – ein Werk zu benennen, das ihr in besonderer Weise nahestand: Ein Bild, das sie mehr als andere liebte, ein Fresko oder ein Gebäude. Pasolini, Schüler von keinem Geringeren als Roberto Longhi, war auf diesem Gebiet kein Laie. Er wählte weder ein Bild noch ein sogenanntes Kunstwerk, sondern eine Stadt, genauer: die Form der Stadt. Nämlich die Form der kleinen Stadt „Orte“, die damals, 1973 oder 1974, vor allem als Bahnknotenpunkt bekannt und gerade in ihrer Unversehrtheit sehr gefährdet war. Auf dem kleinen Bildschirm konnte man also den Dichter sehen, wie er auf einen Pflasterstein einer Gasse in „Orte“ hindeutete oder auf ein ausgebrochenes, gelbliches Mauerstück und klagend meinte: „Auch das da ist Teil der Form von ,Orte‘, und ich möchte, dass es gerettet wird.“
Ich glaube nicht, dass die Wahl auf ein Städtchen wie „Orte“ zufällig fiel. Die reduzierten Dimensionen dieses kleinen Ortes im Hohen Tibertal stellten auf ihre Weise eine – wenn auch sehr unsichere – Gewähr für die Bewahrung einer Form dar. Im Vergleich dazu war etwa Rom – um es gleich zu sagen – bereits verloren, und das seit Anfang der 50er-Jahre. Tatsächlich ruft Pasolini in der Prosa jener Zeit Rom wiederholt mit einem bezeichnenden Verb auf: beschmieren. Wie viele Male stößt man in seinen Romanen und Drehbüchern aus jener Zeit auf einen Satz wie diesen: Rom war an den Horizont geschmiert. Rom war also keine Form; es war ein aufgebrochener, überlaufender Haufen, ohne Zusammenhang und Grenze, wie eine Gallertmasse und Creme zum Verschmieren.
Francesco Careri
Über die ersten missglückten Begegnungen
“Niemand von uns hatte vorher einen direkten Bezug zu den Roma, die Reise war also ein wichtiges gemeinsames Wachsen. Wir sind bei Null gestartet. Als wir 1995 zum ersten Mal die Stadt Rom durchforsteten, gingen wir am Eingang des Quintilian-Lagers vorbei und betraten es nicht. Es war später Nachmittag, wir waren müde und suchten einen Ort für ein Nachtlager. Auf einer Wiese, die die Albaner für ihre Kinder zum Fußballspielen hergerichtet hatten, ließen wir uns nieder. Ich erinnere mich daran, dass wir mit einem Mann gesprochen haben, der großgewachsen und schön war, mit tiefblauen Augen und einer weisen Ausstrahlung. Er erinnerte mich an Melquiades, an jenen Zigeuner aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Garcia Marquez. Melquiades und die anderen Albaner hatten ein altes Gehöft besetzt und es in ein Haus für mehrere Familien mit einem gastfreundlichen Ambiente verwandelt. Auf unsere Frage, ob wir in jenem Feld schlafen dürften, antworteten sie, wie glücklich sie wären, Gäste zu haben und dass wir unsere Zelte gerne aufschlagen könnten.”
Carl Fingerhuth
Die Zeit der Moderne war eine Expedition in die Tiefe des mentalen Potenzials des Menschen. Es war eine Zeit der Erforschung, des Erkennens und des Beschreibens der physischen Welt. Dabei war der Raum eines der zentralen Forschungsprojekte – in der Astronomie, der Physik oder der Architektur und der Stadtplanung. Im Übergang von der mythischen Bewusstseinsstruktur in die mentale Bewusstseinsstruktur der Moderne wurde die dreidimensionale Gestalt des Raumes erkannt und interpretiert. Künstler zeichneten die ersten perspektivischen Bilder, mit einem definierten Standpunkt des Betrachters und einem Fluchtpunkt, der vom Standpunkt bestimmt war. Häuser und Städte wurden nach Plänen gebaut, in denen die ideale Gestalt über das Denken der Menschen festgehalten wurde.
Fotografie und kollektive Imagination
Francesco Jodice
Am 22. November 1963 filmte der texanische Unternehmer Abraham Zapruder, der in Kovel in der Ukraine geboren wurde und als jüdischer Russe noch als Kind nach Brooklyn auswanderte, mit seiner Bell & Howell 8-mm-Kamera mehr oder weniger zufällig den Mord an J. F. Kennedy in Dallas. Durch die Zerlegung des kurzen Filmstreifens in einzelne Fotostills brachte der damalige Staatsanwalt Jim Garrison das Lügengebäude der Warren-Kommission zum Einsturz und wies die Beteiligung von Geheimdiensten, Militär und Parlamentsabgeordneten am Mordkomplott nach. Damit veränderte Garrison ein für allemal die Auffassung, die die Amerikaner von der eigenen Geschichte hatten.
Weiterlesen: Die unerträgliche Existenz der Städte: Fotografie und kollektive Imagination
Ein Interview mit Arno Ritter
von Angelika Burtscher
“Stadt definiert sich für mich unter anderem über Architektur und Bauten, die als Hintergrund und als gestalteter Raum urbanes Leben ermöglichen. Ein wichtiges und prägendes Moment von Urbanität ist eigentlich der Raum zwischen den Gebäuden – Straßen, Plätze und öffentliche wie private Räume –, der viel zu wenig beachtet und diskutiert wird. Denn wenn man sich an gewisse Städte erinnert, dann kommen einem weniger einzelne Bauten als ihre Zwischenräume, ihre Stimmungen und teilweise ins Unbewusste abgespeicherte Atmosphären in den Sinn. Man könnte auch vom „genius loci“ – einer nur schwer zu beschreibenden spezifischen Aura oder Textur einer Stadt – oder von einer urbanen Grammatik sprechen. Denn bevor eine Stadt auf globale Allerweltszeichen setzt, lohnt es sich, ihre spezifischen Potenziale für den urbanen Alltag zu überdenken. Egal ob eine Stadt groß oder klein ist – Urbanität kann sie weder erfinden noch herstellen; nicht mal darstellen: Urbanität ist unsichtbar.”
Ein Gespräch mit Joseph Rykwert
von Roberto Gigliotti
“Aus meiner Sicht ist der Tourismus eine grundlegend destruktive Zivil- und Gesellschaftsfunktion. Vor allem weil der Tourismus saisonal ist, und eine Stadt sich während der touristischen Saison füllt und dann wieder leert. Man könnte das Gleiche auch über die Universität sagen, denn die Studenten sind während des Semesters da. Das ist in allen Universitätsstädten so: In Cambridge, Oxford, Cambridge Massachussets, New Haven, Alcalà oder Padua. Doch rund um die Universität entwickelt sich ein Leben, das nicht saisonal ist – so ist zum Beispiel die ganze universitäre Infrastruktur und der Lehrkörper dauerhaft in die Stadt integriert.”
Ferdinand Schmatz
Werk des Zufalls oder Werk des Plans, der Sinne oder des Verstands, was ist uns die Stadt?
Mitten in mir liegt ein Wald, er breitet sich aus, die Äste verzweigen sich, treten aus meinem Körper hinaus, treiben in den Asphalt, Sprünge bilden sich aus und Gras beginnt darin zu sprießen. Ich wünschte mir, zu verwachsen mit der Stadt, in die ich reisen wollte, also band ich mich los und in sie ein. Auch mein Kopf öffnete sich und gab eine Landschaft frei. Was sich da zeigte, waren Hügel, Täler, Höhlen, Nischen, aber auch Zeilen aus Bäumen, Alleen, der Grad höchster Ordnung. Ich suchte eine auf und glaubte mich im Bezirk der Vorstadt – oder war es der Bezirk des Verstands. Wie kam ich da raus? Er hatte Verwinkelungen, ich sprang über diese hinweg und lief schnurgerade davon. Ich wollte ein Zentrum betreten, den Kern erreichen – und fand mich an der Schwelle eines Tores wieder.
Ferdinand Schmatz / Heimo Zobernig
Weiterlesen: Wörter brauchen keine Seiten / Le parole non hanno bisogno di pagine
Mit Boris Sieverts durch den Süden Luxemburgs
Wir gehen weiter und gelangen an die Bahngleise der Bahnstrecke Luxemburg–Belgien. Gegenüber sehen wir ein riesiges, ausgeräumtes und mit Rasen eingesätes Industrieplateau liegen. Es war das größte Industriegebiet Frankreichs. In den 80-Jahren fanden dort in Longwy wichtige Arbeitskämpfe statt. Heute ist diese große Fläche extrem bizarr und teilweise auch schön. Auf dem Plateau liegen riesige Rasenflächen neben Gewerbegebieten. Zusammen mit Luxemburg und der belgischen Seite bildet es das „Pol european de dévelopment“. Es gibt drei Varianten, wie hier mit der Großindustrie umgegangen wird: Die Franzosen lassen sie spurlos verschwinden, die Belgier brachfallen, wie hier, und die Luxemburger – denen es wirtschaftlich gut geht – planen und konvertieren die Flächen. Die Luxemburger sind schnell und realisieren die Pläne, sie sind imstande die Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft zu transformieren.
Eine Intervention von Benjamin Tomasi
Kuratiert von Angelika Burtscher
Die Bewohner von Neapel erzählen oft mit Sehnsucht vom Parco delle Rimembranza, der eigentliche Parco Virgiliano, der bis in die Mitte der 90er-Jahre für die liebenden Paare und ihre Autos offenstand. Der Platz soll romantischer gewesen sein, er war Sportplatz, Spazierweg, ein Ort für öffentliche Konzerte und gleichzeitig ein Ort der Liebe.
Benjamin Tomasi: Napoli Parking
TRAUM STADT WIR auf issuu.com
Design: Lupo & Burtscher
Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Kulturabteilungen
Stiftung Südtiroler Sparkasse
Stadt Bozen, Amt für Kultur
Autonome Region Trentino-Südtirol
Fördermitglieder 2008:
Parkhotel Laurin, EOS – Solution for Business, Heinrich Gasser
Jetzt und bald
AUSSTELLUNG :: Binta Diaw :: Collective Practices – A Living Experience of Feeling ListenedÜber Lungomare
Lungomare, 2003 in Bozen gegründeter Kulturverein, versteht sich als ein Projektraum, in dem auf das Bedürfnis und die Notwendigkeit reagiert werden kann, Ideen, Meinungen, Erfahrungen und Differenzen auszutauschen und kulturelle Aktivitäten in ihrem politischen und sozialen Kontext zu erfahren. Lungomare erforscht und erprobt in seinen Projekten das Beziehungsgeflecht zwischen Design, Architektur, Stadtplanung, Kunst und Theorie und präsentiert diese anhand unterschiedlicher Formate: Publikumsgespräche, Symposien, Publikationen, Ausstellungen und Interventionen im öffentlichen Raum. Sie sind darauf ausgerichtet, in die kulturellen und sozio-politischen Prozesse des von Lungomare bespielten Territoriumseinzugreifen. Aktuell konzentrieren sich die Aktivitäten von Lungomare auf Projekte langfristiger Residencies: Die Gäste von Lungomare sind eingeladen, sich im und mit dem Kontext Südtirol auseinander zu setzen und in diesem zu agieren. Die Aktivitäten von Lungomare sind an folgenden drei Prinzipien ausgerichtet: eine spezifische Aufmerksamkeit für das Umfeld, in dem die Projekte durchgeführt werden, der transdisziplinäre Zugang, der sie kennzeichnet und die Reflexion über die Rolle von Lungomare als Kulturinstitution im Kontext seines bespielten Ortsgebietes.
ChronologieTerritorium
Lungomare befindet sich am Ortsrand von Bozen, der Hauptstadt Südtirols und versucht die Bezüglichkeiten zu seinem Umfeld anschaulich zu machen, indem es seine verändernden Dynamiken thematisiert. Bozen ist durch eine Mischung dichter Wohngebiete und ausgedehnter Grünflächen charakterisiert. Letztere werden weitgehend landwirtschaftlich genutzt und durchdringen vielerorts und bis ins Zentrum das urbane Stadtgebiet, was der Stadt eine landschaftlich pittoreske und besondere Note verleiht. Die es umringenden Berge tragen ebenso zum hohen touristischen Image der Stadt Bozen und seiner Umgebung bei und sind unter anderem der Grund, warum die Region wirtschaftlich vor allem durch seinen Tourismus boomt. Die demografische Struktur der Stadt ist seit geraumer Zeit durch das Zusammenleben zweier Bevölkerungsgruppen, der deutsch- und der italienischsprachigen geprägt. Die soziale und demografische Zusammensetzung der Bevölkerung ist heute im Wandel. Migranten auch aus nichteuropäischen Ländern lassen sich hier nieder oder durchqueren die Region, zum Teil auf der Suche nach politischem Asyl